Zwischen den hohen jüdischen Feiertagen Jom Kippur/Versöhnungstag (24./25.9.2023) und Sukkot/Laubhüttenfest (1. Tag: 29./30.9.2023) erklang in der Versöhnungskirche auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau am Donnerstag, 28. September, Musik, die in Deutschland zwischen 1933 und 1945 nicht in der Öffentlichkeit erklingen durfte, weil die Komponisten jüdischer Herkunft waren oder weil Komponisten ohne jüdische Wurzeln jüdische Gebete vertont hatten: Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847), als Kind jüdischer Eltern jung getauft und evangelisch aufgewachsen, wurde von den Nationalsozialisten posthum antisemitisch verfemt. Fritz Kreisler (1875-1962), Sohn eines jüdischen Arztes, der vor den Nazis erst nach Frankreich und dann in die USA floh. Ernest Bloch (1880-1956), der als Jude sicher in den USA lebte, in die er schon 1917 ausgewandert war. Viktor Ullmann (1898-1944), dessen jüdische Eltern vor seiner Geburt zum Katholizismus konvertiert waren und der selbst als Erwachsener aktives Mitglied bei den humanistischen Freimaurern war, wurde 1942 ins Ghetto Theresienstadt verschleppt und von dort 1944 zur Ermordung ins KZ Auschwitz deportiert. Ohne eigene jüdische Wurzeln hatten die aus christlichen Familien stammenden Max Bruch (1838-1920) und Maurice Ravel (1875-1937) die zentralen jüdischen Gebete Kol Nidre und Kaddisch vertont.
Alle Werke brachten die aus Russland stammenden jüdischen Profimusiker Alexander Lifland (Violine) und Dr. Roman Salyutov (Piano) zu Gehör, die für den Abend aus Nordrhein-Westfalen anreisen, wo sie heute leben.
Alexander Lifland spielte dabei auf der Violine, die ursprünglich Igor Itzchak Orloff gehörte und 2022 von Roman Salyutov erworben wurde.
Igor Itzchak Orloff, geboren 1884 unweit von Sankt Petersburg, versuchte der Einberufung durch die russische Armee zu entgehen, was ihn im Ersten Weltkrieg erst nach Skandinavien und dann nach Deutschland führte. Anfang der 1920er Jahre tauchte er in Berlin auf, spielte in einem Ensemble. Hier lernte er die gebürtige Ukrainerin Lola Grün kennen. Die beiden trafen sich auf der Flucht vor den Nazis in Frankreich, wo sie erneut gemeinsam musizierten. Lola Grün wurde nach dem deutschen Angriff auf Frankreich als deutsche Staatsbürgerin ausgewiesen. Ihr staatenloser Freund blieb zurück. Bevor die beiden getrennt wurden, vertraute er ihr seine Geige an. Sie möge diese bis zu einem Wiedersehen in Obhut nehmen. Danach verliert sich seine Spur. Vermutlich wurde er nach Auschwitz deportiert. Lola Grün überlebte den Krieg. Sie hütete die Geige im Gedenken an ihren Freund, gab das Instrument schließlich an ihren Enkel weiter. Aber niemand spielte darauf. „Das Instrument wird wieder gespielt, es ist quasi seine Stimme“, sagt Roman Salyutov. Für ihn ist sie ein Mahnmal gegen das Vergessen.
Es folgte das musikalische Programm des Abends - die Kompositionen wurden von Dr. Roman Salyutov jeweils eingeführt, der auch die von ihm recherchierte Biographie von Igor Itzchak Orloff vorstellen wird:
Maurice Ravel: Kaddisch (eines der wichtigsten jüdischen Gebete, wird auch von den Angehörigen von Verstorbenen gesprochen), 1914
Felix Mendelssohn Bartholdy: Arie "Höre, Israel, höre des Herrn Stimme!" aus dem Oratorium Elias über den Propheten aus dem Tanach, der Hebräischen Bibel (Altes Testament in der Christlichen Bibel), 1846
Max Bruch: Kol Nidrei (Gebet, das am Vorabend des höchsten jüdischen Feiertag, des Jom Kippur gesprochen wird), 1880
Ernest Bloch ( 1928): Avodah (Teil der Gottesdienstliturgie am Jom Kippur)
Ernest Bloch: Suite Baal Shem (zu Ehren des berühmten polnischen Rabbiners Baal Shem Tow), Sätze: Vidui (Sündenbekenntnisse aus der Liturgie des Jom Kippur), Nigun (chassidisches Lied ohne Worte) und Simchat Torah (Fest der Gesetzesfreude, nach dem Abschluss des Laubhüttenfestes), 1923
Fritz Kreisler: Liebesleid und Schön Rosmarin, aus den Alt-Wiener Tanzweisen, 1910
Viktor Ullmann: Drei jiddische Lieder, komponiert 1944 im Ghetto Theresienstadt
Als Ehrengast hatte bereits Gemeinderätin Irene Endraß von der Liberalen jüdischen Gemeinde München Beth Shalom zugesagt.
Veranstalter: Evangelische Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau und Katholische Seelsorge an der KZ-Gedenkstätte Dachau – mit freundlicher Unterstützung durch die Stadt Dachau und den Landkreis Dachau
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Evangelische Versöhnungskirche
in der KZ-Gedenkstätte Dachau
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Im Gesprächsraum - Mo-So 10-16 Uhr:
- Aktuelle Ausstellung bis zum 24.10.2023: „Wir hatten noch gar nicht angefangen zu leben. “Die Ausstellung zeigt anhand von Biographien die sozialrassistische Verfolgung der als „Gemeinschaftsfremde“ ausgegrenzten Mädchen und Jungen in den speziellen Jugend-Konzentrationslagern Uckermark und Moringen.
- Lesetisch Gedächtnisbuch „Namen statt Nummern“ www.gedaechtnisbuch.org
Weitere allgemeine Informationen über die KZ-Gedenkstätte finden Sie unter https://www.kz-gedenkstaette-dachau.de